Es ist der eine Moment, den Fußballfans in aller Welt inbrünstig herbeisehen. Der Augenblick, der alle persönlichen Emotionen in einer einzigen Situation bündelt und zum Explodieren bringt. So oder so ähnlich muss sich ein Vulkan kurz nach der Eruption fühlen, wenn das heiße Magma zerstörerisch in die luftigen Höhen schießt. Wenn der kritisch aufgestaute Druck an der Oberfläche schießt und im Nachgang bei Betrachtung der Bilder im TV, die glutwarme Masse den Berg herunterfließt und einen bildlichen Abdruck der Verzückung beim Fußballfan hinterlässt. Die ihn staunend, zugleich verstört und ungläubig vor Glück in den Sessel des Augenblickes drückt. Immer und immer wieder möchte er die eine Szene an den Bildschirmen sehen. Kann es selbst beim zwanzigsten Mal kaum fassen und betätigt erneut die Wiederholungstaste.

Vor wenigen Wochen hat einer dieser Vulkanausbrüche Rio de Janeiro getroffen, als Flamengo, ähnlich Manchester United 1999 gegen die Bayern, in letzter Sekunde den großen Pokal Südamerikas  nach Brasilien holte. Fantastische Momente für die Ewigkeit und meistens passieren diese Szenen kurz vor Abpfiff eine Partie. Du liegst zurück, oder du spielst schlecht, keiner kann sich das wirklich  erklären. Du stehst da voller Fußballfieber in deiner Kurve zwischen Zittern, Sehnsucht, Hoffen und Bangen. Du hast dich mit dem 0:0 längst abgefunden, brennst schon für die nächsten Aufgaben deines Vereins, als urplötzlich Unfassbares passiert und du ohne erkennbaren Ansatz auf die höchste Stufe der Fußballekstase gebeamt wirst. Jahrelang hast du genau auf dieses eine Tor gewartet, hast es dir in einer Selbstverständlichkeit gewünscht, wie deine Kinder sich jedes Jahr die besten Weihnachtsgeschenke der Welt erwünschen – und selten bekommen. Du wartest und wartest, viele Jahre, jedes Mal neunzig Minuten und ein bisschen mehr.

Jahre der Entbehrungen, der Freude, mancher Enttäuschungen, glorreicher Siege, blasser  Unentschieden und deprimierender Niederlagen liegen hinter einem. Doch wenn plötzlich von einer Sekunde zur nächsten dieses eine einzige Tor passiert, dieses Kunstwerk vor deinen Augen in Erscheinung tritt und Realität wird, ist es die große Liebe – auf den x-ten Blick und zum ersten und zugleich hundersten Mal.

Es ist ein grauer kalter Novembertag in Halle. Das Einzige, was dich im Stadion noch leicht erwärmt, ist der lauwarme Glühwein und die fettige Bratwurst von der Imbissbude. Du stehst bei deinen Kumpels im Block und sehnst den Abpfiff eines Top-Spiels, das es nur auf dem Papier ist, beim Stand von 0:0 kurz vor Schluss sehnlichst herbei. Das Spiel selber war nicht spektakulär, beide Mannschaften haben sich zumeist versucht, wie auf dem Schachbrett bestmöglich zu neutralisieren. Keines der Teams auf dem Rasen riskiert noch etwas, auch sie scheinen sich mit dem torlosen Ergebnis und der daraus resultierenden Punkteteilung abzufinden. Du siehst dich schon im geistigen Auge in deiner Lieblingskneipe an der Ecke die anschließende Bundesligakonferenz zu verfolgen.

Mittlerweile schreiben wir die 89. Minute, du siehst nur noch mit halber Aufmerksamkeit zum Spielfeld hin, gleich wird der Schiedsrichter die Begegnung abpfeifen. Der Ball wird beim Abstoß deiner Mannschaft nach vorn geschlagen, ein Kopfballduell im Mittelfeld, abgewehrt fliegt der Ball ein paar Meter zurück, um dann prompt ins vordere Halbfeld des Gegners geschlagen zu werden. Hier angekommen, wird der Spielball mit dem Kopf nach hinten abgelegt, wo nun das einzigartige  Kunstwerk dreißig Meter vorm gegnerischen Tor zusammengebaut wird. Urplötzlich willkommen im Zirkus direkt in der Manege. Der Künstler nun nimmt den Ball mit dem rechten Fuß jonglierend mit der Leichtigkeit seiner Schaffenskraft auf und drischt ihn mit der zweiten Ballberührung in der Vorwärtsbewegung auf das gegnerische Tor. Du siehst die Flugbahn dieser „Kunstellation“ und alles,  was in dieser Sekunde auf dich wirkt, ist Hoffen und Bangen, ob denn der Ball deinem geistigen Auge und Willen ins Tornetz folgt. Vorher gleichst du das Bild des Einschlags mit hunderten von ähnlichen Situationen ab. Mal landete die Murmel am Tribünendach, mal am Pfosten und so manches Mal zeigte der Torwart des Gegners in letzter Sekunde seine beste Abwehrleistung.

Das Spielgerät fliegt und fliegt und fliegt, wie ein computergesteuerter Satellit auf seiner Umlaufbahn, 3-2-1 Beng, der Ball schlägt im Tornetz mit gefühlten 300 km/h brachial an. Dein halbschales Bier im Plastikbecher beginnt sich aus purer Begeisterung in die Luft zu verabschieden. Es ist unglaublich, der Ball liegt im Tor, du schaust einmal, zweimal und auch dreimal hin, noch bevor du mit deinen Kumpels im Block in den Armen liegst. Du beginnst es langsam zu begreifen, kneif mich, war das wirklich jetzt alles echt? Der Rest geht unter in grenzenlosem Jubel, der kein Halten mehr kennt. Deine Emotionen sind in diesem Moment grenzenlos und lässt sich einfach nicht bändigen. Wildfremde Menschen liegen sich in den Armen, so fühlt es sich an, wenn im Chor Beethovens 9.Sinfonie“ Freude schöner Götterfunken“ zelebriert wird und aus Halles Menschen auf einmal ausnahmslos Brüder werden. Oder Schwestern. Nichts, außer die Nachspielzeit und ein krummes Tor des Gegners kann dir jetzt noch etwas anhaben. Du bist stark, der Verein ist stark, die Gemeinschaft ist stark, unschlagbar für diesen einen großartigen Moment, von dem du jetzt wieder viele Jahre zehren kannst. Der Moment, der dir Kraft und Energie für manche Enttäuschung der Vergangenheit und vorbeugend für die Zukunft gibt. Du musst es nur genau in diesem Augenblick für dich richtig aufsaugen, darfst nicht auf der Toilette beim Aderlass gewesen sein oder den Pfandbecher auf dem Weg nach Hause abgebend. Das Momentum dieses Glücks wird dich stärken bei der nächsten Niederlage oder wenn der Gegner noch in der letzten Minute zum Ausgleich gekommen ist, wenn du dir auf der stundenlangen Rückfahrt von einem verlorenen Auswärtsspiel die Sinnfrage des Fußballs stellst.

Endlich ist Schluss, Minuten der Nachspielzeit wurden zu Stunden, das Kunstwerk hat einen Rahmen und auch einen Namen. Es heißt Terrence Boyd, der am 30. November 2019 die Ruhmeshalle der genialen HFC-Tore betreten hat. Sein Name wird nun in einem Atemzug genannt mit Tonis Hammer, mit Gogoloks Salto, mit Müllers Kopfstoß und mit Bertrams Spaziergang, wenn es gilt, die schönsten Treffer der jüngsten Vergangenheit beim Halleschen FC zu prämieren. Du gehst an diesem tristen Novembertag nach Hause und freust dich auf deine warme Bude und die Wiederholungen des Kunstwerkes im TV. Dort wirst dir noch mindestens fünfzig Mal dieses eine Tor des heutigen Tages ansehen und beim Betrachten der Torbilder hoffen, dass das alles wirklich wahr ist, was du in jenem  Moment siehst. Zur Sicherheit schaust du dir das am nächsten Tag gleich nochmal nach, ob es auch wahr ist. Kein Traum, alles war sowas von Echt. Du wirst nun wieder eine ganze Weile warten müssen, bis dir ähnliches zu teil wird. Die Hoffnung daran wird dich am (Fußball)Leben halten. Zur Not tut es auch ein dreckiger HFC-Sieg mit unberechtigtem Elfmeter. Es muss also nicht mal ein Kunstwerk sein, so schön es auch war. Danke, Terrence. Danke, HFC.

Michael Bendix, HFC-Fan