Daran konnte sich Norbert Nachtweih beim besten Willen nicht mehr erinnern. Einen Tag, bevor der spätere Bundesliga-Profi im November 1976 mit der DDR-Nachwuchsauswahl U 21 in die Türkei geflogen ist, meldete er sich bei Gerhard Kühne im Metall-Leichtbau-Kombinat (MLK) in Halle. Der damals 19-jährige HFC-Fußballer wollte sich von seinem Lehrmeister noch ein paar Aufgaben für seine Lehre als Metallbauschlosser abholen, hat der heute 83-jährige Rentner diese skurrile Szene nicht vergessen. „Ich habe ihm gesagt, er soll in die Türkei fliegen und ordentlichen Fußball spielen. Wenn er wiederkommt, könne er immer noch für den Abschluss seiner Lehre lernen“, erzählt Gerhard Kühne, der Vater des langjährigen HFC-Managers Ralph Kühne. Es war das letzte Mal, dass der ehemalige MLK-Betriebsleiter seinen Schützling zu Gesicht bekam. Kurz darauf, am 16. November 1976, hat sich der Nachwuchsfußballer des HFC Chemie auf abenteuerlichen Wegen in den Westen abgesetzt. Fast ein halbes Jahrhundert nach seiner Flucht war Norbert Nachtweih am Nikolaustag das erste Mal zu Gast beim halleschen Traditionsverein. Im Kellergewölbe der neuen Geschäftsstelle des HFC in der Rathausstraße 7 in Halle, früher „Grüns Weinstuben“, präsentierte er seine Biografie, die gerade im Edel Sports Verlag unter dem Titel „Zwischen zwei Welten – Meine deutsch-deutsche Fußballgeschichte“ erschienen ist.
„Feilen, Entgraten und Schleifen war damals nicht so mein Ding“, räumte der heute 67-jährige frühere Profifußballer, der mit Eintracht Frankfurt und Bayern München insgesamt viermal Deutscher Meister, dreimal DFB-Pokalsieger wurde und sogar den UEFA-Cup gewann, in der lockeren Gesprächsrunde ein. Doch an die Verabschiedung von seinem Lehrmeister, der leider nicht kommen konnte, hatte er keine Erinnerung mehr. Dafür gab es an diesem Abend ein Wiedersehen mit seinen früheren Mitspielern beim HFC, Holger Krostitz und Burkhard Pingel, sowie seinen Jugendtrainern Dirk Overbeck und Helmut Wilk. Wolfgang Schmidt musste leider wegen einer starken Erkältung kurzfristig absagen. Gleich zu Beginn erlebten die knapp Hundert Besucher eine historische Begegnung: Zum ersten Mal schüttelten sich Norbert Nachtweih und Timo Hoffmann die Hände. Der ehemalige Profi-Boxer, der unter seinem Kampfnamen „Die deutsche Eiche“ 40 Mal den Ring als Sieger verließ, ist wie Norbert Nachtweih in dem Ort Polleben bei Eisleben aufgewachsen. Bis dahin sind sich die beiden Polleber Sport-Legenden noch nie begegnet. „Schön, dass wir uns mal kennenlernen“, sagte der 2,02 große Hüne, der im Jahr 2000 für Schlagzeilen sorgte, als der damals 25-jährige Normalausleger als erster Boxer gegen den sieggewohnten Ukrainer Vitali Klitschko zwölf Runden lang standhielt. „Norbert Nachtweih war in unserem Ort wie ein Geist. Er war als Bundesliga-Profi in aller Munde, aber gesehen habe ich ihn nie“, scherzte Timo Hoffmann, der schon von Kindesbeinen an mit seinem Onkel zum HFC ging. Sein Großvater war übrigens der Hausmeister in der Polleber Schule, die auch Fußball-Talent Nachtweih besuchte, bis ihn die Späher vom HFC Chemie nach Halle holten.
Dort geriet er unter die Fittiche von Dirk Overbeck und Helmut Wilk, damals Nachwuchstrainer beim Klub. Dirk Overbeck, heute 80, zitierte in der Runde aus einer Beurteilung, die er vor über 50 Jahren vor dem ersten Einsatz von Nachtweih in einer DDR-Nachwuchsauswahl verfasst hatte. „Überraschendes Handeln und Schussentschlossenheit zählen zu seinen Stärken“, bescheinigte ihm sein damaliger Junioren-Coach. Damit traf er den Nagel auf den Kopf, denn das zeichnete den 1,74 Meter großen Fußballer während seiner beeindruckenden Karriere aus. Das konnte auch Helmut Wilk bestätigen. „Bei Norbert konnte man schon damals sehen, dass er ein erfolgreicher Fußballer wird“, sagte der heute 84-jährige Pokalsieger von 1962. Und sein Schützling gab das Lob zurück. Er habe beim HFC das Rüstzeug erhalten, um in der Bundesliga zu bestehen.
Was der gebürtige Sangerhäuser später als Profi alles erreicht hat, das haben auch Holger Krostitz und Burkhard Pingel intensiv verfolgt. Die beiden früheren HFC-Spieler haben in ihrer wilden Jugendzeit als Junggesellen mit Norbert so manches Mal die Tanzbar „Palette“ unsicher gemacht. „Wir haben viel gelacht. Ich könnte auch ein Buch schreiben über unsere Erlebnisse“, verriet Holger Krostitz, der schon mit sechs Jahren zu den HFC-Schülern kam und später einer der besten Torschützen des Vereins wurde. Burkhard Pingel verbindet mit Norbert eine besondere Beziehung. Wegen ihres ähnlichen Aussehens und ihrer blonden Haare hießen sie nur die „HFC-Zwillinge“. Als Nachtweih mit Torwart Jürgen Pahl flüchtete, trennten sich allerdings ihre Wege. „Ich habe ihm deswegen nie Vorwürfe gemacht“, sagte Burkhard Pingel, der 1976 mit der U 21-Auswahl in die DDR zurückkehrte und danach einige Repressalien erleiden musste.
Dass Norbert Nachtweih auch als Profi im Westen frei nach Luther „Wein, Weib und Gesang“ liebte, darüber hat er nie einen Hehl gemacht. Und so plauderte er auch im Kellergewölbe beim HFC frank und frei über sein wechselvolles Leben, seine Episoden mit dem Kettenraucher Augenthaler, Maradona, Dieter Hoeneß und seine schlimmsten Gegenspieler, aber auch über Fehlentscheidungen, die er getroffen hat. Und der erfolgreiche Profi hat wegen des Buches nun sogar in seine Stasi-Akten geschaut, ohne, dass er danach nicht mehr ruhig schlafen konnte. Erschrocken war Nachtweih dennoch, als er Fotos entdeckte, die Anfang der 1980er Jahre in seinem Haus bei Frankfurt gemacht wurden. „Das war schon heftig“, bekannte der frühere HFC-Spieler, der an diesem Nikolaus-Abend noch fast anderthalb Stunden lang sein Buch signierte, Autogramme schrieb und Selfies machte. Von HFC-Chronist Thomas Böttcher, der das Gewölbe mit Ausstellungsstücken zur Geschichte des HFC drapiert hatte, bekam Norbert Nachtweih noch einige Erinnerungsstücke aus seiner Zeit beim HFC überreicht. Und Heinz-Joachim Becker aus Leuna gab ihm eine Zeichnung mit, die er extra für ihn angefertigt hatte. Es war jedenfalls eine gelungene Veranstaltung, so der Tenor der Gäste. Auch Norbert Nachtweih war von dem Abend angetan. Nach der Rückkehr in seinen Wohnort Liederbach am Taunus schrieb er uns folgende Zeilen: „Danke für die schöne Veranstaltung. Es hat viel Spaß gemacht. Bis zum nächsten Mal!“